Encarnação

Aneignung der Aneignung

Laymert Garcia dos Santos

Nach den Worten von Ottjörg A.C. ist Marca Rural „ein Projekt des post-globalen Realismus“.

Da ich die früheren Arbeiten des Künstlers kenne, scheint es mir, dass eine solche Bezeichnung einen Prozesses der Kartografie und der Erkundung in verschiedenen Kontinenten und Ländern fortschreibt, Kartografie und Erkundung von Ausdrucksformen einzelner Fragmente des anonymen und scheinbar unbedeutenden Lebens, von großem poetischen Gewicht. Kommen wir direkt zum Punkt: Ottjörg ist immer daran interessiert, im realen Leben irgendein Geschehen einzufangen, dessen künstlerisches Potential „isoliert“ und mittels Transfiguration bearbeitet werden kann, wodurch es einen ästhetischen Wert erhält. Seine Kunst beruht somit in der Aneignung eines bestimmten bis dahin unscheinbaren „Materials“ und in der künstlerischen Fortschreibung seiner Virtualitäten.

So war es in seinem Projekt Deskxistence. Es kartografierte die Einritzungen von Jugendlichen in den Schultischen aus Ramallah, Beirut, Sao Paulo, New York, Sarajevo und anderen Städten und enthüllt durch sie die Wünsche und Geisteszustände der postglobalisierten Jugend. Und so ist es jetzt mit Marca Rural.

Die Arbeit besteht immer aus einem überraschenden Übergriff in die Welt der Druckgrafik. In der Tat, es geht um Druckgrafik aber niemals auf konventionelle Weise. In diesem Fall sind die Vorlagen (Matrizen), die die Bilder auf das Papier drucken Hoden von Rindern und Pferden, Brandeisen, blutige Hände, die das Weiss stempeln. Darin gerinnen die ephemeren Momente einer alten jedoch sehr zeitgenössischen Praxis, wie sie in Rio Grande do Sul im äußersten Süden Brasiliens noch angewandt wird: Kastration und Kennzeichnung der Rinder und Pferde.

Obwohl üblich ist dieses rurale Tun ein Ereignis im eigentlichen Sinne des Wortes; denn sie mobilisiert leidenschaftlich alle Beteiligten – Menschen (Männer) und Tiere – in einer Art komplexen Rituals, auf verschiedenen Ebenen.
An erster Stelle ist die eigene Materialität des Vorgangs höchst dramatisch; denn sie hat mit Leben zu tun, mit Sexualorganen, Schneidewerkzeug, Blut, tierischen und menschlichen Aktionen und Reaktionen, Kraft, impulsiven Bewegungen, Zähmung, kurz mit der rohen Wirklichkeit. Aber die materielle Dimension hängt zusammen mit einem kaum verhüllten Erotismus, der Sexualität und Gewalt, Unterwerfung und Anmaßung vermischt, in dem Maße wie die den Tieren aufgezwungene Kastration sich als Überlegenheit der Menschen darstellt, eine Ausübung ihrer Macht – ein Körper gegen einen anderen Körper, das für das Tier Unglück und für den Menschen Vergnügen bedeutet. Eine Dimension, materiell und symbolisch, physisch und metaphysisch, körperlich und psychisch gleichzeitig, obwohl profan, beschwört sie trotzdem ein Opferfest herauf – und nicht umsonst endet das Ereignis immer mit einem Fest, einem Churrasco.

Nun gilt es noch die abstrakte Ebene zu erwähnen, die zu den anderen beiden hinzukommt, und die dem ganzen Vorgang einen Sinn gibt: Es handelt sich um die Transformation des Tieres in eine Ware, in ein Besitztum, das sich durch das Einbrennen eines Zeichens (in der Regel die Initialen des Besitzers) mit einem heissen Eisen in das Fleisch des Tieres konkretisiert. So werden das Rind oder das Pferd in erster Linie zur Ware, zum Tauschwert.

Von diesen Dimensionen und seinen natürlichen, soziokulturellen und ästhetischen Potenzialen fasziniert, hat Ottjörg ein künstlerisches Dispositiv entwickelt, das die Aneignung verdoppelt, d.h. das die Aneignung der Aneignung der Natur durch die Kultur vollzieht. Aneignung im Quadrat. Wie jemand, der nichts will, stellt der Künstler den Vorgang der Kastration und Kennzeichnung auf den Kopf. So ergeben die Überreste, die Spuren, Reste von Haut, Haaren, Mähne, Blut und Feuer, Zeichen des Wiedererstehens der sukzessiven Momente des Geschehens, die auf das ausgebreitete Papier fließen, ineinandergreifen, eine Komposition bilden, eine Art Kombination aus Farben, Linien, Streichungen, Flecken, Tropfen in einer kontinuierlichen Variation, von einer Druckgrafik zur anderen.

Das Ergebnis ist widersprüchlich. Alles scheint befriedet, gesetzt, dicht – eine „Dokumentierung“ der Kastrierung und der Markierung. Im Unterschied zur fotografischen, filmischen oder Video-Aufzeichnung befindet sich der Zuschauer nicht vor einem Bild des Geschehens, sondern vor der Sache selbst! Der entrissene Hoden des Tieres ist da, löst sich allmählich auf den fortlaufenden Drucken auf, die die Vorlage aufgebraucht haben; das Feuer des Eisens, das sich in die Haut des Tieres brennt, ist dasselbe, das das Papier zerfrisst; das Haar, das die Gestaltung der Linien bewegt, ist dasselbe, das sich auf dem Boden im Verlauf des Kampfes, des Angriffs der Menschen, des Widerstands der Tiere ausbreitet; das Blut, das sich in die Oberfläche druckt, ist dasselbe, das die Finger des Kastrators befeuchtet... Es ist kein Bild der Handlung, das angeeignet wurde, sondern die eigentliche das Geschehen auslösende Handlung. Es gibt somit keine Repräsentation, sondern eine „Präsentifikation“. Die Drucke stellen den Vorgang der Enteignung der Potenz der Natur dar zum Zwecke der Zuordnung und Realisierung des abstrakten Werts. Aber sie stellen ihn als solchen dar, in all seiner Grausamkeit ohne rhetorische Hilfsmittel, ohne Metaphern, ohne theatrale Ausflüchte.
Es gibt eine Umkehrung der Potenz beim Übergang von der Enteignung des Tieres zur Verkörperung des abstrakten Werts durch das Tier. Die Umkehrung der reproduktiven natürlichen Potenz zum reproduktiven Potential des Kapitals, das sich realisiert, wenn das Tier verkauft wird. Somit ein Sieg der Abstraktion über das Gefühl (die Empfindung), wie er immer im Kapitalismus auftritt, weil die Realität der Entrealisierung sich als realer als das Reale durchsetzt.

So ergibt sich die politische Ebene der Arbeit von Ottjörg, die zu den zuvor erwähnten drei anderen Ebenen hinzu kommt. Es ist klar, dass es sich um einen ziemlich primitiven Transformationsprozess von Leben in Ware handelt, und zwar weil er zu nah am Nullpunkt kapitalistischer Akkumulation ist. Wir sind weit entfernt von den subtilen und hochentwickelten Operationen von Wertschöpfung des Finanzmarkts. Aber genau deshalb ist sein Charakter exemplarisch. In der Stille der Drucke von Ottjörg pulsiert, blutet der Gnadenstuhlritus des Kapitals.