Daniel: Ottjörg, eine Deiner Reisen im Zusammenhang mit dem Drucken von Schultischen hat Dich nach China geführt. Ottjörg: China ist für mich ein wichtiger Ort der Reibung und Auseinandersetzung. Ich war 1982 das erste Mal dort, nicht weil mich das Land besonders interessierte, sondern weil mein Bruder in Peking studierte. Es gab noch kaum Tourismus und so hatte ich Zeit, in aller Ruhe den Kaiserpalast und das Nationalmuseum anzuschauen. Da gab es diese Tuschzeichnungen des Bambus, die schön waren, alle ähnlich, und an der einen stand 800 vor Christus, an der anderen 300 vor, 780 nach Christus, 1457 nach und 1912. Ich fand es schon sehr irritierend, dass es dort scheinbar keine sich entwickelnde, fortschreitende Kunstgeschichte gab. Und dann war ich plötzlich bei der Frage, ob unsere Vorstellung von Geschichte die einzige und richtige ist. Durch die nicht erfüllte Erwartung wird man auf das Eigene zurückgeworfen und stellt es in Frage. So entsteht eine Beziehung. Insgesamt war ich deutlich mehr als zwei Jahre in China, meistens zwischen sechs Wochen und vier Monaten. Daniel: Du hast dort auch Schultische gedruckt. Das stell ich mir nicht ganz einfach vor. Diese in einem fremden Land zu bekommen und dort vor Ort auch gleich zu drucken. Auch der Umgang mit den Offiziellen. Ottjörg: Auch hier gibt es eine Differenz in der Vorstellung. Während bei uns das Unkontrollierte auch ein Teil des zivilisierten Menschen ist, was allerdings kulturell umgeformt werden soll, scheint mir, dass es in China eher zu einem Bereich gehört, der in der Kultur einfach nichts zu suchen hat, es sei denn in einer kulturell stilisierten Technik. Schultische zerkratzen ist keine solche, auch wenn jeder, mit dem man in China spricht, daran erinnert, in den Tisch gekratzt zu haben. Folgerichtig ist, sobald man sich einer Schule, einem Ort der Kultur, mit der Bitte nähert, Tische ausleihen zu dürfen, um sie abzudrucken, dass die Tische in genau dieser Schule angeblich ohne Kerb sind. Wenn ich nun dennoch Tische möchte, muss ich versuchen mit der Situation umzugehen. Und da wird es gerade auch als Künstler wieder spannend. Die Frage, wie weit gehe ich in eine Struktur rein? Die stellt sich nicht nur in China. Wenn wir jetzt gerade einen Katalog zur Arbeit machen, gehen wir in die gegebene Struktur des Betriebssystems Kunst hinein. Wie weit entziehe ich mich einer Struktur, wie weit kann ich mich ihr überhaupt entziehen? Wie weit ist Distanz nötig, um überhaupt etwas anders zu machen als gewohnt. Am Ende ist es in China, wie in den meisten Ländern: Mit Referenzen von wichtiger Stelle oder Persönlichkeit geht vieles, man bekommt auch Schultische. Nur der Weg zur Referenz ist unterschiedlich. Daniel: Die Drucke, die du auch jetzt in China zeigst, sind nicht alle dort entstanden, sondern in fünfzig Schulen in neunzehn Städten in aller Welt, in Ramallah, Peking, New York, Kairo. Da fragt man sich natürlich sofort, ob die palästinensischen Tische anders verkratzt sind als die in New York. Erhält sich denn eine kulturelle Eigenheit – wenn man davon ausgehen mag, dass es das noch gibt – auch in so einem Bereich, den man, mit Walter Benjamin gesprochen, dem optisch Unbewussten zurechnen könnte, wo also eigentlich gar kein kontrollierter Ausdruck angestrebt wird? Ottjörg: Ich glaube nicht, dass es immer vollkommen unbewusst passiert. Es findet ja an einem Ort statt, an dem ich geformt werde, oder geformt werden soll. Ich habe eine Selbstvergewisserung auf diesem Tisch. Insofern passiert es manchmal schon bewusst.Daniel: Sicher, aber ich erinnere mich an mich selbst, da hört man dem Mathelehrer zu, findet das langweilig, kommt auf andere Gedanken, kritzelt nebenher noch was auf den Tisch und da denkt man ja auch nicht besonders intensiv darüber nach, was man da kritzelt. Ottjörg: Da denke ich, wenn etwa in Ramallah auf dem Tisch einer christlichen gemischten Schule groß „Fatah“ steht und auf dem einer muslimischen Jungenschule „Hamas“, dann ist das schon auch eine Aussage, eine Aussage der Zugehörigkeit. Daniel: Das kann man dort auch von Schule zu Schule sehen? Ottjörg: Ich kann ja kein Arabisch, habe in den Schulen Tische gedruckt, und man zeigte mir auf dem einen Tisch eine Landkarte von Palästina eingekratzt, und darüber steht „Fatah“ und auf einem anderen Tisch mehrfach „Hamas“. Das sind politische Aussagen, die finde ich in New York so nicht. New York fällt für mich an dem Punkt aus dem Rahmen, da ich dort kaum verbale Botschaften oder Icons ausmachen kann. Daniel: Ja, das ist eigentlich nachvollziehbar, dass in politisierten Gegenden, wo die Konflikte sogar die Körper der Kinder erreichen, sich dies auf den Schultischen niederschlägt. Ottjörg: Ich finde insgesamt, dass die Art und Weise, wie eine Schule geführt wird, sich auf den Tischen stärker abzeichnet als der Ort, an dem sich die Schule befindet. Es gibt gleichzeitig eine Globalisierung, die daran zu erkennen ist, dass die fünfeckigen Sternchen von Microsoft Desktop überall auf der Welt den Weg auf die Schultischplatte finden, sich Tic Tac Toe ausbreitet und die Swastika sich behauptet. Es wird überall geritzt. Wo Schule ist, gibt es zumindest im Moment noch Tische, dort gibt es Menschen und die kratzen in die Tische. Daniel: Aber natürlich ist die Schule keine unbelastete Institution. Zumindest seit Foucaults Forschungen kann man davon ausgehen, dass die Schule ebenso wie das Militär, wie das Gefängnis, wie andere Institutionen nicht zuletzt auch eine Institution der Zurichtung ist. Menschliches Material wird funktionierbar gemacht. In diesem Sinne hat auch eine Ökonomisierung der Schule stattgefunden. Interessant in diesem Zusammenhang finde ich, dass Du ja genau das zeigst, oder dass diese Tische ja genau der Ort sind, an dem sich eine gewisse Widerständigkeit der Subjekte manifestiert. Letztlich offenbaren die zahllosen Verkratzungen auf den Schultischen eine Lust am Sinn - und Ziellosen. Ottjörg: Mir scheint es eher um eine Selbstvergewisserung zu gehen, dass „ich noch da bin“, als um den Versuch, eine wirkliche Gegenwelt entstehen zu lassen. Die entsteht höchstens im Kopf, in den Abenteuern und Träumen. Die Funktionierbarkeit entsteht auch nicht in jeder Schule für sich, sondern im Schulsystem. Bei den Projektteilen „Scholarglyphs Sao Paulo“ und „Scholarglyphs New York“ habe ich Tische einmal aus neun und einmal aus elf Schulen mit Schülern aus sehr unterschiedlichen sozialen Kontexten gedruckt. Wenn nun die Drucke gleichwertig nebeneinander liegen, lässt sich keine Hierarchie ausmachen. Es gibt auch keine wichtigen Unterschiede bei dem, was sich auf ihnen abzeichnet. Obszönitäten, Schimpfworte, motorische Kratzer aus Langeweile oder Liebesbotschaften sind alle klassenübergreifend. Soziale Unterschiede zeigen sich eher an der Größe und Form der Tischplatten und der Häufigkeit, mit der sie gegen neue ausgetauscht werden. Selbst die Intensität der Bearbeitung lässt nicht zwangsläufig erkennen, ob ein Tisch alle fünf bis zehn Jahre ausgetauscht wird oder vierzig Jahre im Klassenraum steht. Allein die Überlagerung der Spuren wie bei einem Palimpsest macht unterschiedliche Zeiträume deutlich. In den Größen und Formen der Platten hingegen manifestieren sich mit den sozialen Unterschieden auch gesellschaftliche Machtstrukturen innerhalb von Staaten, aber auch zwischen Staaten. Sie können aber kaum zur Rechtfertigung eines Machtpostulats dienen. Ich denke, die Tatsache, dass in Mazedonien die Schultische länger in Gebrauch sind als in fast allen anderen europäischen Ländern, weist unmittelbar auf die minoritäre Rolle dieser Nation in Europa hin. Daniel: Schlagen wir von hier aus doch einmal eine Brücke zu „manuskript, globally unskripted“*, zu dem, was Du mit diesen Drucken eigentlich vorhast. Sie kommen aus einem sozialen Kontext, und du entfernst dich von der Zivilisation, du möchtest sie an Orten zeigen, die man eher mit „Natur“ als mit „Kultur“ assoziiert. Einmal, glaube ich, war das der Amazonas, dann die Sahara, der offene Ozean und die Arktis. Das sind ja nun Orte des erhabenen Naturbegriffs, an denen der Mensch die Kontrolle verliert und wo die Drucke quasi sich selbst überlassen würden. Das hat ja auch eine metaphorische Ebene, ich weiß nicht, ob dir diese bewusst ist oder ob es dich interessiert, dass diese Orte relativ frei von Strukturen sind, die sozial kontrollierend Einfluss nehmen. Sicherlich geht für Dich eine subjektive Faszination von diesen Orten aus, aber auch in der Logik des Projektes gibt es für mich eine metaphorische Ebene, diese Dinge dorthin zu tragen und sich eben auch selbst zu verlassen. Ottjörg: Kann ich das, mich selbst verlassen? Meine chinesischen Freunde würden sagen: Das ist ein richtiges Zen-Projekt. Dennoch sind diese Orte zunächst auch die Orte der Sehnsucht, der Flucht aus der Struktur der Schule, die wiederum der Ort ist, an dem ich modelliert werden soll. Es sind also Orte, von denen ich mir Freiheit verspreche. Aber ich glaube nicht, dass mich die romantische Komponente daran besonders interessiert. Es geht mir um die Frage, was mit Dingen geschieht, die im kulturellen Zusammenhang als Kunst gelten, wenn sie in diesem „außerkulturellen“ Raum zurückgelassen werden. Bleiben sie Kunst oder werden sie zu Müll? Und wie fühle ich mich dabei? Als Umweltverschmutzer oder als Kulturschaffender, der den Kulturraum erweitert? Als jemand, der mithilft, diese „Refugien“ zu zerstören, oder der zur Erkenntnis beiträgt und Bewusstsein schafft? Daniel: Mir gefällt deine Metapher, dass ich mich mit den Drucken ein Stück weit selbst dorthin trage und mich selbst verlasse. * „manuskript, globally unskripted“: Etwa die Hälfte der Drucke, das sind ca. 250, werde ich zwischen je zwei Glasplatten versiegeln. Von diesen werde ich viermal jeweils 25, in etwa die Größe einer Schulklasse, zusammenpacken und je an einem dieser Orte, die Du aufgezählt hast, ortsspezifisch installieren. In einem Zeitraum von etwa vierzehn Tagen werde ich Foto- und Filmaufnahmen von den Drucken machen im Spiel des Lichts von Sonne und Mond sowie in der Interaktion mit der Umgebung. Hier ist mir das visuelle Erleben wichtig, nicht die Dokumentation als Informationsvermittlung. Danach bleiben sie, sich selbst überlassen, zurück. Die übrigen 150 Drucke werden zu einem quadratischen Kubus aufgeschichtet, dessen vier Seiten dann als Projektionsflächen für die Bilder der vier Orte dienen. Da die 150 Drucke in unserem kulturellen Kontext Warencharakter haben, sind sie käuflich und werden damit Stück für Stück privatisiert. Dadurch nimmt der Kubus von oben her ab. Da die Projektionen im 45°-Winkel von oben auf die Seitenflächen stattfinden, werden die Bilder bei Abnahme des Stapels zunehmend auf der oberen Fläche sichtbar und überlagern sich, bis sie sich schließlich auf dem Fußboden gänzlich überdecken.