DeskXistence

Innere Werte. Vom Eindruck zum Ausdruck

2010

"Wenn Sie eine junge Gans (...) in Obhut des Menschen aus dem Ei schlüpfen lassen, so dass der Mensch das erste Lebewesen ist, das ihr begegnet, dann fixiert die junge Gans in nicht mehr rückgängig zu machender Weise ihre kindliche Anhänglichkeit an den Menschen, dem sie als erstes begegnet ist, und folgt ihm während ihrer ganzen Jugend so getreu nach, wie sie normalerweise den Eltern nachfolgen würde."

So erklärte der in Wien lebende Verhaltensforscher Konrad Lorenz (1903 – 1989) den Begriff der Prägung. Hierfür bekam er unter anderem 1973 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Prägung nennt man in der Verhaltensbiologie eine irreversible Form des Lernens: Während eines meist vergleichsweise kurzen, genetisch determinierten Zeitabschnitts (sensible Phase) werden Reize der Umwelt derart stabil ins Verhaltensrepertoir aufgenommen, dass sie später wie angeboren erscheinen. Im Rahmen der Instinkttheorie wird das Phänomen Prägung gedeutet als die Aneignung eines Schlüsselreizes durch Lernen.

Ebenso gibt es das bereits seit der Antike existierende Verfahren der Münz-Prägung. Diese erfolgte bis zum Ende des Mittelalters durchweg im freien Schlag mit dem Hammer. Auf den fest montierten Unterstempel war eine Münzplatte gelegt, auf diese wurde der Oberstempel gesetzt, und auf diesen wurden dann die Hammerschläge geführt. Dieses Verfahren wurde durch Vorrichtungen mechanisiert, bei denen schließlich auch der Oberstempel in eine feste Führung gebracht war, später, noch einfacher naturgemäß das Verfahren, das bei der Brakteatenprägung Anwendung fand. Hier war kein Unterstempel notwendig; die Prägung erfolgte einfach mit dem Hammer über einer weichen Unterlage. Wesentlich ist jedoch, dass seit Alexander dem Großen meist ein Porträt des Herrschers die Münze prägte!

Die älteste Münztradition hat vermutlich China. Bereits im 3. Jahrtausend vor Christus gab es dort münzähnliche Kupferstücke in Form von Schwertern, Spaten und Kleidern, später mit dem Siegel des Herrschenden versehen, bei denen es sich möglicherweise bereits um Kreditgeld handelte.
Ottjörg A.C. verbindet nun dieses alte Wertesystem der Münzen aus dem Osten und ihrer Prägung mit dem westlichen Kunst-Verfahren des Tiefdrucks zu einem neuen, globalen Kommentar der psychologischen Dimension menschlichen, vorrangig jugendlichen Ausdruckswillens.

Seit 1999 arbeitet der deutsche Künstler mit Existentmalen ebenfalls an Prägungen, die etwas von der Existenz des jeweiligen Individuums in einem ihn formenden Kontext erzählen. Dennoch sind es Prägungen, Druckwerke ganz anderer Art. Er transformierte bereits gekratzte Zeichen von Architekturen wie Säulen chinesischer Pavillons oder an der Großen Mauer mittels der Frottage auf einen Bildträger. Jetzt aber geht es um eine relativ junge Erscheinung, dem Einkratzen von Zeichen vor allem auf U-Bahn-Scheiben großen Metropolen überall in der Welt und die Übertragung in Druckgrafik. So wird aus dem radikalen Akt der Zerstörung

öffentlichen Eigentums und der Einschreibung von rein jugendlichem Ausdruckswillen urbaner Gegenwart ein künstlerisches Werk.

Den farbigen Radierungen liegen nicht nur gescratchte Scheiben aus vierzehn Metropolen von Amsterdam über Paris, Shanghai bis Sao Paulo oder Zürich zugrunde. Sondern im "Scratchen" als ein neues, sich international ausbreitendes Großstadtphänomen, drückt sich – in den für Nicht-Eingeweihte informellen Zeichen - für Ottjörg eine Prägung der Persönlichkeit aus, die sich im öffentlichen Raum bewegt, und eine ganz eigene Sprache und visuelle Kommunikation ausgeprägt habt.

Seine klassischen Drucke machen Details wie die Linienführung deutlich und erlauben einen Vergleich zwischen den unterschiedlichen, lokalen Eigenheiten: Die Berliner Scheiben sind mit breit gekratzten, blockartigen Initialen übersäht, während z.B. in Paris die Linien eher dezent geschwungenen ausfallen. In Schanghai fand er gar keine Linien!

Ottjörg A.C. lernte die Technik des Druckens beim Wiener Alfred Hrdlicka. Und auch Sigmund Freud als dritter im Wiener Bunde steht neben Konrad Lorenz für eine weitere Deutung seiner Werke. Erst anhand des Tiefdrucks werden die "Scratchings", die Kratzer, im Detail sichtbar und zur Kunst. Die Weiterführung dieser Idee führte in die Schule selbst, einen Ort, an dem die Wissensvermittlung, die Sozialisation und womöglich auch die Prägung für das spätere Leben einen wesentlichen Teil ausmachen.

Ottjörg A.C. nutzt die Oberflächen von Schultischen für die Serie der Deskxistence. Im gleichen Verfahren und in verschiedenen Ländern interessiert ihn erneut der Ausdruckswille – diesmal jedoch nicht in einem urbanen Gefüge, sondern vielmehr in den Institutionen zwischen Erziehung und Bildung. Generationen von Schülern haben ihre Zeichnungen hinterlassen, die für die nachfolgenden Generationen bis zum Abschleifen auf den Tischplatten konserviert sind. Damit ist das Schulbänke zerkratzen ein vielen von uns bekanntes Massenphänomen. Die Verletzung von Oberflächen und die Gründe dahinter sind das Thema, und Ottjörg macht sie sichtbar. Er akzentuiert sie mit Farbe und verleiht den Zeichen und Spuren eine neue Ästhetik, da das Material der Drucke und der Ort der Präsentationen eine Beziehung zur Kunst formulieren, die wie in der analytischen Fotografie einen Vergleich der Motive erlauben.

An den Vergleich mit der jungen Gans ist zu erinnern. Wem die junge Gans in nicht mehr rückgängig zu machender Weise folgen wird, wem ihre kindliche Anhänglichkeit gilt, und wem sie während ihrer ganzen Jugend so getreu nachfolgt, wie sie normalerweise den Eltern nachfolgen würde, ist auch in den Werken Ottjörgs wesentlich. Prägungen sind Entscheidungen – mitunter für das Leben, Münzen nur ein Tauschobjekt, jedoch haben beide mit Kommunikation zu tun. Und genau diese ist das eigentliche Thema der Deskxistence wie der Existentmale.

Gregor Jansen
Leiter der Kunsthalle Düsseldorf